11 Geduld, Monatstugenden
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Geduld im Prozess

Es ist nicht leicht, das Hochwachsen in den Schulterstand aus dem Herzbereich zu entwickeln.

„Steter Tropfen höhlt den Stein.“ sagte schon der Grieche Choirilos von Samos im 5. Jhdt. vor Christus. In diesem Bild des sachten Tropfens, der über lange Zeit hinweg den harten Stein aushöhlt, drückt sich sehr schön die Geduld aus. Auch wenn der Fortschritt nicht im einzelnen Augenblick zu sehen, entsteht er aber dennoch unsichtbar. Meist glaubt man nur, was man sieht und würde das Aushöhlen damit erklären, dass mikroskopisch ja doch eine Veränderung bei jedem Aufprall des Tropfens zu sehen sei. Aber zur Zeit Choirilos‘ gab es keine Mikroskope und es ist anzunehmen, dass er auf den inneren Zusammenhang hindeuten wollte: auf den Prozess

Was hat Geduld mit dem Prozess zu tun?

Nicht auf einen Schlag höhlt der Tropfen den Stein, sondern viele kleine Impulse erzeugen eine Wirkung im Gesamtzusammenhang. Der Prozess im Lernen bedarf der wiederholten Hinwendung und Aufmerksamkeit. Er benötigt Zeit, in der sich die Fähigkeit und das Verständnis zur Sache entwickelt.

Im künstlerischen Schaffen kennt man solche Prozesse sehr gut. In der Malerei komme ich oft gerade dadurch weiter, indem ich einen Tag vergehen lasse, damit ich sehe, was zu tun ist. In der Zwischenzeit hat etwas in mir weiter gearbeitet. Lerne ich ein Instrument oder neue Stücke, entstehen oft ganz unverhofft Fortschritte, wo ich schon resignieren wollte. Und da zeigt sich besonders, wie der Prozess seine eigenen Rhythmen hat und die Wirkung da ist, auch wenn sie sich erst viel später zeigt. Es lohnt sich also, Geduld zu haben und Zeit zu investieren.

Rudolf Steiner formuliert diesen Zusammenhang sehr schön im Bild der Sonne, die seit Jahrmillionen über der Erde auf- und untergeht und dies noch undenkliche Zeiten tun wird: „Da hinein, in diese Geduld versetze man sich und denke dann nicht, wenn eine Übung nach drei, vier, fünf Jahren noch keine Wirkung hat, die Übung sei wirkungslos.“¹

Wenn man sich nun vorstellt, man sei selbst ein wenig wie die Sonne und möchte eine Sache auf der Erde zum „Wachsen“ bringen, eine Sache also verwirklichen und nimmt dies auch ernst, dann sollte man den Entwicklungszeitraum nicht zu kurzfristig ansetzen. Beispielsweise sollte man im Yoga nicht zu schnell aufgeben, wenn die Beweglichkeit nicht entsteht. Man sollte sich Ziele fassen, und nicht warten, was die Übung mit einem macht. Sonst geht man von sich als dem festen Stein aus, auf den irgendetwas einwirken möge, und nicht von den Tropfen der eigenen Impulse, die den Stein bearbeiten! Es wäre wichtig, sich selbst als den Initiator des Prozesses und der Entwicklung zu sehen!!

Nehmen wir die Yogaübung ebenso als einen künstlerischen Prozess und nicht nur als technisches Können, bei dem man den Körper mechanisch in die Übung bringt! In der Yogastellung „Schulterstand“ kommt die Geduld in der Weise zum Tragen, dass es etwas Besonderes zu entwickeln gilt, was man auch nicht sogleich sieht. Wir haben natürlich das äußere Können zu entwickeln, also die Beweglichkeit, etwas Kraft und auch Geschicklichkeit, womit wir durch Wiederholung den „Stein“ bearbeiten. In der künstlerischen Auffassung aber ist vor allem eine innere Gestik zu lernen. Das ist beim Schulterstand ein Wachsen, welches sich der Schwere enthebt. Ich nenne diese innere Geste: „Aus der Zurückhaltung hochwachsen“.

In der ersten Phase stellt man sich auf die körperlichen Verhältnisse ein und wartet zunächst einmal ab, bis sich Atem und Blutdruck an die Umkehrung gewöhnt haben. Darin drückt sich eine erste Zurückhaltung aus, wodurch ein Bezug zur Gegenwart entsteht.

Die innere Zurückhaltung besteht gegenüber dem zu einseitigen Wollen, das „Irgendwie-hochkommen-Wollen“ um schnell den Bedrängnisse zu entkommen. Ein Bereich des Körpers muss sich immer erst einmal mit der Erde „versöhnen“. Beim Schulterstand sind das Arme, Schultern, Nacken und Kopf. Man legt sie äußerlich wie auch innerlich am Boden ab, also man achtet innerlich darauf, wie sie den Boden berühren und denke an die geduldige Zurückhaltung. Zuerst wird also das Bewusstsein empfindsamer, alsdann der Rumpf leichter in die Aufrichtung balanciert, die Beine entspannt und der Herzbereich sanft in die Position über die Schulterachse gebracht. Das Brustbein nähert sich dabei dem Kinn und der Brustkorb richtet sich ein wenig aus dem Einsacken heraus auf. Hierbei ist etwas Vorsicht geboten, dass der Nacken sich nicht zu sehr überdehnt. (Verletzungen entstehen oft aus Ungeduld!) Nahezu im gleichen Moment, in dem man das Maß des Aufrichtens des Herzens gefunden hat, beginnt auch schon das Hochwachsen. Hier ist ein aktiver Impuls angesagt, aber eben gezielt aus dem Herzbereich.

Damit ist die Koordination aus der Beschaulichkeit und Ruhe des Bewusstseins beschrieben. Der künstlerische Prozess wird aber noch mehr in Gang gesetzt, wenn man sich noch weiter überlegt, wie die Bewegung aufsteigen soll. Allerdings benötigt man hierzu wiederum passende Inhalte als Inspiration, welche die Empfindung in der richtigen Weise anregen. Und diese „richtige Weise“ meint eine Übereinstimmung mit den kosmischen Gesetzen, in die auch der Mensch mit seinem Körper eingebunden ist. Die Dynamik, die sich der Schwere enthebt – vergleichbar mit dem aufsteigenden Nebel, dem Wachstum der Pflanzen oder dem zentrifugalen Prinzip von einem Punkt in den Raum –, wird in der Geisteswissenschaft Rudolf Steiners „Ätherkraft“ genannt: „Wo die physische Materie drückt, da saugt der Äther. Die physische Materie erfüllt den Raum; der Äther schafft die Materie aus dem Raume heraus.“ In den Pflanzen ist dieses Ätherprinzip am deutlichsten sichtbar. Eine Pflanze, die von Licht und Wärme angezogen wird, wächst nicht aus Muskelkraft, sie „folgt“ der Bewegung des Äthers, die irdischen Substanzen der Pflanze werden sozusagen der Schwerkraft enthoben. Wenn man sich nun in der Übung vorstellt, dass der Schulterbereich zur Erde geht und die Bewegung aus dem Herzbereich aufsteigt und sich über die Wirbelsäule fortsetzt, wie die in den Raum wachsende Pflanze, so kommt man diesem Ätherprinzip näher und die Bewegung wird mit der Zeit spürbar leichter möglich und bekommt einen anderen Ausdruck!

Die reine Technik der richtigen Muskelanspannung wäre vergleichbar mit dem Bauen eines Turmes aus starrer Substanz, ähnlich dem Gerüst des Eifelturms. Die innere Geste nach dem Gesetz der Ätherkraft, mit der der Übende den Schulterstand formt, durchdringt die Substanz und belebt die Form, sie ist seelisch-geistiger Natur. Allerdings: Bis ich diese Art der Bewegung annähernd als etwas Reales erleben und gestalten konnte, hat es 9 Jahre gedauert, obwohl ich körperlich sehr beweglich war und eine gut ausgebildete Muskulatur hatte. Und die Frage nach dem Ätherprinzip ist noch nicht abgeschlossen! Insbesondere bei solchen Inhalten ist die Geduld gefordert, was ich genau in dieser Art erlebte:

“Sie können ganz sicher sein: Wenn Sie die Fragen aufwerfen ins Blaue hinaus, werden Sie Zufallsantworten bekommen, die schließlich für den einzelnen eine egoistische Befriedigung gewähren können, die aber doch nicht wirkliche Antworten sind. Sie müssen untertauchen in Blume und Meer, in das Firmament, in die Sterne, in alles dasjenige, was von außen auf Sie als Eindruck kommt, in das müssen Sie untertauchen Ihre Rätselfragen, und dann müssen Sie abwarten, bis einmal aus Ihrem Inneren die Antworten auftauchen. Sie können nicht vierzehn Tage warten, Sie können nicht einmal die Zeit bestimmen, die die alten Eingeweihten bestimmen konnten. Sie müssen warten, bis der richtige Moment gekommen ist, daß das Äußere ein Inneres geworden ist, und aus Ihrem Inneren heraus die Antwort kommt.”²

Wir fassen in dieser Übungsweise die Yogaübung als etwas auf, in das wir nicht irgendwie, sondern mit unseren Rätselfragen eintauchen. Dieser Prozess der Verinnerlichung erfordert eben sehr viel Geduld. Gerade bei diesem Forschen mit solchen Rätselfragen, wie „Was ist der Äther und wie drückt er sich in der Bewegung aus?“, würde ein zu schnelles Abhandeln nur im Intellekt bleiben. Dieser muss sich aber an der richtigen Stelle zurückhalten oder gedulden, damit die Antwort im Innern reifen und sich zu gegebener Zeit zeigen kann, so dass sie mir entgegenkommt.

Die Geduld wird zu Einsicht

Die Einsicht ist das Ergebnis der Geduld. Man darf „wird zu“ als eine Metamorphose verstehen. Es gibt Dinge, die man nicht willentlich erreichen kann. Dazu gehört eben die Einsicht oder das Verstehen, welches ja oft unerwartet kommt. Damit wird auch verständlich, dass jeder Einsicht oder Erkenntnis ein innerer Prozess vorausgeht, an dem verschiedene Eindrücke, Überlegungen und Erfahrungen zusammenwirken und bei dem vor allem die Zeit eine Rolle spielt. So wie es Rudolf Steiner oben ausgedrückt hat: „Sie müssen warten, bis der richtige Moment gekommen ist, daß das Äußere ein Inneres geworden ist, und aus Ihrem Inneren heraus die Antwort kommt.“ Diese Antwort aus dem Inneren dürfen wir wohl als Einsicht betrachten.


1) Lit.: Rudolf Steiner Gesamtausgabe 266b, S. 26
2) Lit.: Rudolf Steiner Gesamtausgabe 213, S. 36

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