01 Mut, Monatstugenden
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Der Mut – eine Januarübung

Kopfstand Vorbereitung

Gibt es eine Übereinstimmung zwischen äußerer und innerer Haltung wie beispielsweise Mut? Zwischen der Haltung, die ich mit dem Körper einnehme und der Haltung, die ich innerlich z.B. zu anderen Menschen oder zu einem Sachverhalt einnehme? Im Volksmund gibt es Ausdrücke wie „Rückgrat haben“ oder „Haltung bewahren“ und man meint genau genommen nicht die angestrengt aufgerichtete Wirbelsäule, als vielmehr die innere seelische Haltung, die sich nicht sogleich den manchmal schwierigen Verhältnissen im Leben ergibt.

Bei einem Menschen kann sich in der äußeren Haltung etwas von der inneren abbilden. Es kann aber auch äußerlich eine Haltung eingenommen werden, die innerlich nicht vorhanden ist. Beispielsweise, wenn jemand lügt oder einem etwas vorspielt, wo er nicht wirklich „dahinter steht“, etwas anderes sagt, als er denkt. Vermutlich wünscht sich jeder bei sich selbst und anderen in der Begegnung eine Übereinstimmung von innerer Wesenshaltung und dem Ausdruck davon in der äußeren Haltung. Ebenso möchte man den anderen in einer gewissen Kraft seiner Haltung sehen – was natürlich nicht bedeutet, dass es keine Krisen geben darf, sondern dass man einem Menschen die Kraft wünscht, sich aufzurichten und mit einer Situation umgehen zu können.

Diese innere Kraft ist nicht in jeder Lebenslage gleich vorhanden. Es gibt Situationen, die neu sind und Unsicherheiten und Ängste mit sich bringen. Oder man steckt in einer Arbeit und der Erfolg stellt sich nicht ein, was die Motivation mindern und mutlos machen kann. Oder aber man trägt Belastungen schwieriger Probleme usw. … All dies bringt die Anforderung mit sich, gerade in den Schwierigkeiten und Disharmonien des Lebens, innere Kraft und „Haltung“ zu entwickeln. Man könnte diese innere Haltung auch als Tugend bezeichnen, hier insbesondere als die Tugend des Mutes :

„Eine andere Tugend ist diejenige, welche wir mit einem Worte, das eigentlich schwer zu bilden ist, die mutartige Tugend nennen können. Sie ist von derartiger Gemütsverfassung, dass sie dem Leben gegenüber nicht passiv bleibt, sondern geneigt ist, die Kräfte anzuwenden. Die mutartige Tugend kommt, wie man sagen könnte, aus dem Herzen. Von einem solchen, der diese Tugend im gewöhnlichen Leben hat, kann man sagen: Er hat das Herz auf dem rechten Fleck. – Und das ist auch ein guter Ausdruck dafür, wenn wir imstande sind, nicht feige uns zurückzuziehen von den Dingen, die das Leben von uns verlangt, sondern wenn wir fähig sind, uns in die Hand zu nehmen, einzugreifen verstehen, wo es notwendig ist. Wenn wir in solcher Weise unsere Aktivität in Bewegung zu setzen geneigt sind, kurz, wenn wir wacker sind – der Ausdruck «wacker» ist auch ein guter für diese Tugend –, dann haben wir diese Tugend des wackeren Lebens.“

Rudolf Steiner, GA 159 Seite: 17

Rudolf Steiner* griff die so genannten Monatstugenden von H.P. Blavatsky auf und erweiterte sie jeweils um eine Imagination – ein geistiges Vorstellungsbild:

Mut wird zu Erlöserkraft. 

Zunächst geht es aber darum, den Mut in konkreter Weise eine zeitlang zu üben, indem wir ihn in den entsprechenden Lebenssituationen nach und nach entwickeln lernen. In jedem Monat wird eine Tugend besonders in die Mitte gestellt. Ab dem 21. Dezember bis Ende Januar ist dies der Mut. Den Mut kann man konkret üben, die Erlöserkraft ist eine Entwicklung, die sich im Verständnis und als Wirkung erst aus dem Prozess des Übens zeigen kann: im Beobachten des eigenen Handelns, das Reflektieren darüber und sich daraufhin Ziele zu setzen, entsteht eine innere Kraft, die wiederum ins Leben zurückstrahlt. Wenn wir allein schon ein Verständnis, oder besser gesagt einen Sinn dafür entwickeln, wie Aktivität mit Mut zusammenhängt, dann bekommt auch die Yogaübung, der diese Haltung des Mutes sehr charakteristisch inne liegt, einen ganz anderen Ausdruck.

Sehen wir uns für diese Aktivität, eine Sache mutig zu ergreifen, die Waage an. Was hat die Bewegung, in der man einen Schritt nach vorne geht und dabei den Körper in einer durchlaufenden Streckung in eine andere Raumdimension überführt, damit zu tun?

Vorbereitung Waage

1. Schritt und durchlaufende Streckung

Die Vorbereitung der Waage ist bereits ein wesentlicher Teil der Übung. Der Körper wird in eine Streckung gebracht. Dabei sollte das Gefühl entstehen, dass die Wirbelsäule wirklich ein wenig länger und in Spannung gebracht wird. Bevor die Bewegung weitergeführt wird, achte man darauf, dass eine durchlaufende Dynamik entsteht. (Ggf. muss dafür die Blockade aus den Schultern gelöst werden.)

Yogaübung Waage

Entgegen der Schwerkraft muss die durchlaufende Dynamik frei im Raum gehalten werden

Als nächster Schritt – es ist wirklich ein bewusster Schritt in den Raum hinein – wird das Gewicht auf den vorderen Fuß verlagert und der Körper in die Waagerechte geführt. Die hauptsächliche Dynamik bleibt im Rücken und verliert sich nach außen. Hier genügt es nicht, aus rein körperlicher Kraft die Übung zu halten. Aus einem klaren inneren Entschluss muss der Körper ergriffen werden. Diese Aktivität der Führung bleibt auch noch beim Zurückgehen in der Rückendynamik erhalten.

Mit diesen Gedanken schulen wir bei der Übung der Waage körperlich wie seelisch unser Rückgrat. Diese Aktivität, den Körper in eine größere Spannung zu bringen, ist vergleichbar mit der Gemütsverfassung, die „dem Leben gegenüber nicht passiv bleibt, sondern geneigt ist, die Kräfte anzuwenden“. Denn gerade kurz vor dem Schritt in die ungewohnte Bewegung hinein, wird man gerne unsicher – und zwar primär innerlich und erst in der Folge auch körperlich! In diesem Moment müssen wir uns beim Üben eine Art inneren Ruck geben, um „nicht feige uns zurückzuziehen von den Dingen, die das Leben von uns verlangt,“ sondern fähig zu werden, „uns in die Hand zu nehmen, einzugreifen verstehen, wo es notwendig ist“.  Der Gedanke, „unsere Aktivität in Bewegung zu setzen“,  sollte sogar ganz praktisch in die Übung einbezogen werden, damit diese innere Haltung auch im wahrsten Sinne des Wortes zum Tragen kommt! Bei der Waage darf man nicht halbherzig beginnen, sonst findet man nicht die rechte tragende Formkraft!!

Was heißt „Mut wird zu Erlöserkraft“?

Rudolf Steiner beschreibt die Veränderung, die der Schüler auf dem geistigen Schulungsweg macht, wenn er bemerkt, dass manches, was ihn bisher geleitet hat, nicht mehr tragfähig ist. Er muss dann in sich selbst einen neuen Antrieb finden:

„Ganz neue Triebfedern zum Handeln und Denken wird er entwickeln müssen. Und eben dazu gehören Mut und Furchtlosigkeit. Vorzüglich handelt es sich darum, im tiefsten Innern des Gedankenlebens selbst diesen Mut und diese Furchtlosigkeit zu pflegen. Der Geheimschüler muss lernen, über einen Misserfolg nicht zu verzagen. Er muss zu dem Gedanken fähig sein: «Ich will vergessen, dass mir diese Sache schon wieder missglückt ist, und aufs neue versuchen, wie wenn nichts gewesen wäre.» So ringt er sich durch zu der Überzeugung, dass die Kraftquellen in der Welt, aus denen er schöpfen kann, unversieglich sind. Er strebt immer wieder nach dem Geistigen, das ihn heben und tragen wird, wie oft auch sein Irdisches sich als kraftlos und schwach erwiesen haben mag. Er muss fähig sein, der Zukunft entgegenzuleben, und in diesem Streben sich durch keine Erfahrung der Vergangenheit stören lassen.“

Rudolf Steiner in Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten

Mut und Furchtlosigkeit als innere Kraft
Yogaübung Kopfstand

Der Mut zur Umkehrung

Als fortgeschrittene, aber durchaus noch für jeden gesunden Menschen erlernbare Übung, gilt der Kopfstand. Die Waage kräftigt mit der Zeit die Rückenmuskulatur, für die wir im Kopfstand ein Gefühl benötigen. Die ungewohnte Umkehrhaltung erfordert eine völlig neue Orientierung. Gerade diese fehlende Sicherheit des gewohnten Standes erfordert unsere mutige innere Aktivität. Denn zunächst werden wir immer wieder umfallen und die Angst vor dem Umfallen wird dann bei dem nächsten Versuch vorherrschend sein. Aber gerade gegenüber der Erinnerung an diese Angst könnte jetzt ein neuer Gedanke gefasst werden: «Ich will vergessen, dass mir diese Sache [bisher] missglückt ist, und aufs neue versuchen, wie wenn nichts gewesen wäre.»

aufstrebende Bewegung über dem Punkt am Boden

Der erste Schritt ist das Aufsetzen des Kopfes am Boden – am besten mit einem bewusst gefassten Gedanken: Ich will aufs neue versuchen, wie wenn nichts gewesen wäre, die Form der Vertikalen zu finden. (Nicht die Angst, sondern wir selbst führen die Übung.) Daraufhin wird der Rücken aufgerichtet, indem man mit den Füßen zum Körper läuft (siehe Eingangsbild ganz oben). In dieser Phase sollte man sich bemühen, den Rücken schon so sehr in ein Aufwärtsstreben zu bringen, so dass man nicht hoch springen muss. Die Beine können dann in einer weiten Bewegung durch den Raum in die Vertikale geführt werden.

Das Hochgehen muss längere Zeit geübt und erst einmal durch eine Hilfestellung gesichert werden. Mit der Zeit bekommt man aber ein Gefühl für das Zusammenwirken von Rücken und Beine. Die Zugkraft der Aufrichtung nach oben braucht nur wenig Schwung. Der Körper steht dann im Verhältnis zu dem Punkt am Boden, auf dem der Kopf aufgesetzt wird. Die Beine stehen im Lot dazu und über die Wirbelsäule entsteht mit der Zeit das Gefühl des Aufwärtsstrebens. Dieses Aufwärtsstreben wird gerade durch die Umkehrung der gewohnten Verhältnisse im Kopfstand besonders erlebbar. Die Zeichnung soll die Empfindung des Aufwärtsstrebens im Verhältnis zu dem Punkt am Boden verdeutlichen. Die körperliche Spannkraft beginnt nicht am Kopf, sondern bei der mittleren Wirbelsäule.

Während es in der ersten Übung um die „Fähigkeit, uns in die Hand zu nehmen“ ging und nicht feige die Handlung zu unterlassen, sondern der passiven Haltung die aktive entgegenzusetzen, kommt hier das Streben zu einem Ideal, das in der Zukunft liegt, hinzu. (Er muss fähig sein, der Zukunft entgegenzuleben, und in diesem Streben sich durch keine Erfahrung der Vergangenheit stören lassen.) Die alte Erfahrung oder das bisherige Misslingen wird völlig in Ruhe gelassen und ich überlege mir von neuem Ideal und Form die in der Zukunft entstehen sollen. Das Ideal ist wie der Ausgangspunkt allen Handelns oder wie in der Übung beim Kopfstand, der Punkt am Boden. (Wenn das Ideal auch ein geistiges ist, muss es ja dennoch im Leben – also auf der Erde analog zum Punkt am Boden – aufgebaut werden.)

Die Tatkraft und das gedachte Ideal der Furchtlosigkeit, ergänzen sich bei dieser Tugend des Mutes. Der Mut des „Herzens am rechten Fleck“ scheint mir die Kraft zu sein, die die Entwicklung in Gang bringt. Den Mut und die Furchtlosigkeit in Gedanken und Gefühlen zu pflegen, begleitet und festigt wiederum die Zielrichtung in ruhiger beständiger Weise. Die Kraft, erlösen zu können, scheint mir gleichbedeutend mit dem Vorwärtsschreiten in der eigenen Entwicklung anstelle den Gewohnheiten und Ängsten zu folgen. Es ist, als hätte der Mensch die Freiheit, Fähigkeiten zu entwickeln und dass sich in diesem Maße die eigene Biografie verwandelt, sozusagen Bindungen gelöst werden. Ich denke, Erlöserkraft sollte man sich nicht so vorstellen, als würde man durch Konzentration auf etwas Einfluss nehmen und dieses dann erlösen können. Ich würde Erlöserkraft als eine Art Freiheit bringende Wirkung sehen, die durch die Fähigkeit der Verwandlung eines Bisherigen zu etwas Neuem entsteht. Das kann niemals durch Askese oder durch ein Abschneiden der Vergangenheit entstehen, sondern eben durch ein mutiges Hineingehen ins Leben, bei dem man wahrscheinlich oftmals (wie im Kopfstand) auf sich selbst gestellt ist.


*Rudolf Steiner ist der Begründer der Anthroposophie, welche den Hintergrund beispielsweise der Waldorf-Pädagogik bildet. Sie schafft aber auch eine geisteswissenschaftliche Erweiterung der Schulmedizin, gibt Impulse für die Landwirtschaft und andere Lebensbereiche. Rudolf Steiner sah im anthroposophischen Schulungsweg ebenso einen „neuen Yogaweg“ im Sinne eines geistigen Erkenntnisweges oder eines seelisch-geistigen Entwicklungsweges.
Ergänzend möchte ich betonen, dass ich nicht die Yogaübungen anstelle des anthroposophischen Schulungsweges Rudolf Steiners setzen möchte. Die Yogaübungen sind genau genommen kein Schulungsweg. Sie können als eine eigenständige Bewegungskunst aufgefasst werden, die der Praktizierende um seelische Inhalte, wie man sie bei Steiner findet, bereichern kann. In der Bewegung und Haltung klingt immer der Ausdruck des individuellen Menschen hindurch. Es ist immer der Mensch, der eine Bewegung „füllt“, niemals die Lehre.

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