„Ausdauer wird zu Treue“. So lautet die Tugend im Monat Juni. Sie schließt sich dem Gleichgewicht des vorigen Monats an und leitet zur Selbstlosigkeit des nächsten Monats hinüber.
Das Üben der Ausdauer entwickelt sich zur seelischen Kraft der Treue. Stellt man sich vor, direkt die Treue leben zu wollen, dann fehlt noch irgendein Bezug, die Treue zu etwas bzw. die Ausdauer an etwas. Also muss noch etwas hinzukommen: Man benötigt eine Zielsetzung, einen Impuls, der eine neue Bewegungsrichtung einschlägt und damit einen Weg eröffnet.
Um also ein konkretes Ziel zu haben, haben sich die Schüler im Yogakurs eine āsana (Yogaübung) ausgewählt, welche sie verbessern möchten. Wir haben zunächst 2 Fragen an den Anfang gestellt:
- Welche Übung möchte ich besser können?
- In welcher Zeit ist das realistisch?
Was ist bis zum Sommer, was ist bis Ende des Jahres realistisch?
Gerade der Zeitraum schien mir wichtig, um nicht den Leistungsaspekt, sondern vielmehr die Entwicklung in den Vordergrund zu stellen. Denn in dem Wort Ausdauer steckt die Dauer, die Langmut – das Gegenteil von Kurzlebigkeit und schnellem Erfolg. Daraufhin haben wir die Zusammenstellung der Übungsreihe je nach Teilnehmer gestaltet, die Wiederholung unter verschiedenen Aspekten, Variationen, Haltezeit … kurzum eine gewisse Intensität erzeugt. Interessanterweise kamen die Fortschritte sogar schneller als erwartet. Das lässt darauf schließen, dass allein die selbst gewählte Zielsetzung mehr in Gang gesetzt hat, als das Üben die vielen Monate und Jahre vorher ohne konkretes Ziel, was auch schon rel. intensiv war.
Was bedeutet es, ein Ziel für sich zu formulieren?
Wenn ich mir überlege, z.B. den Kopfstand in einer bestimmten Zeit lernen zu wollen, dann rückt er ganz natürlich stärker in die Mitte der Aufmerksamkeit. Dieses In-die-Mitte-Rücken dessen, was man sich überlegt und ausgewählt hat, ist ja bereits eine Aktivität der eigenen Mitte, der Individualität. Gewöhnlich übernimmt man vorgegebene Ziele, z.B. in der Ausbildung, im Studium oder in der Berufsausübung. Sich selbständig Ziele zu setzen, entspringt viel mehr der individuellen Freiheit. Das Individuum hat einen Bezug zum sog. Herz-Chakra oder Herz-Lotus, dem mittleren der 7 Energiezentren. Es ist das anāhata cakra, das unberührte, unversehrte, unbesiegbare, kräftige und aus sich selbst heraus klingende Energiezentrum in der Region des physischen Herzens. Diese Übersetzung des Wortes anāhata aus dem Sanskrit erinnert an das „Herz wie ein Löwe“ aus unserem Sprachgebrauch, ein Herz mit Wille und Kampfgeist. Es klingt etwas Feuriges hindurch, ein glühender Wille, kein hart fixierter Wille, sondern die Fähigkeit, sich für etwas erwärmen, sich begeistern zu können. So verstanden muss die auf ein Ziel gerichtete Langmut also nicht „langweilig“ sein, wenn sich der Wille an diesem Ziel entzünden kann.
Rudolf Steiner sieht die Ausdauer als eine Eigenschaft des „Herzlotus“ und formuliert sie insbesondere für die geistige Schulung, aber auch für jeden Menschen nachvollziehbar, folgendermaßen:
„Der Geheimschüler läßt sich nicht durch diese oder jene Einflüsse von einem Ziel abbringen, das er sich gesteckt hat, solange er dieses Ziel als ein richtiges ansehen kann. Hindernisse sind für ihn eine Aufforderung, sie zu überwinden, aber keine Abhaltungsgründe.“¹
Da klingt bereits die notwendige Bereitschaft und ein gesunder Kampfgeist hindurch, gemäß dem Sprichwort „Hindernisse sind dazu da, überwunden zu werden“. Man kann sich gut vorstellen, wie das Lernen auf ein Ziel hin anders wird, wenn man die Hindernisse von vornherein einbezieht und sogar als eine Aufforderung zur Auseinandersetzung ansieht und diese nicht scheut. Erst wenn das Ziel wirklich als falsch erkannt wird, sollte es aufgegeben werden. Solange es aber nicht unverhältnismäßig und lebensfern wirkt oder jeglicher gesunden Vernunft widerspricht, solange es nicht moralisch verwerflich und egoistisch ist und niemand dabei zu Schaden kommt, kann man sein Ziel getrost weiter verfolgen. Man erkennt bei diesen Überlegungen auch sogleich, ob es doch eher das eigene Gemüt ist, welches die Anstrengung scheut, ob es eine Ausrede ist oder ob es ein berechtigter Abhaltungsgrund ist.
Die Zielsetzung und die Ausdehnung der Wirbelsäule
Dieser Zusammenhang, sich mit Hindernissen auseinanderzusetzen, kommt sehr unmittelbar in der „Kopf-Knie-Stelleung“ zum Ausdruck. Wobei dieser Name eigentlich irreführend ist, da es eben nicht darum geht, mit dem Kopf zu den Knien zu kommen, sondern zunächst den Rücken zu strecken, die Wirbelsäule auszudehnen und aus dieser Dynamik den Körper zu schließen.
Die erste Phase der Ausdehnung ist sehr wichtig. Hier wird eine Art Streben erzeugt: Die Wirbelsäule wird durchgespannt und in eine strahlenförmige Längsbewegung gebracht. Dabei wird der eigene Wille aktiviert, da diese Ausdehnung entgegen der Schwerkraft gehalten werden muss.
Nachdem die erste Hürde der Anstrengung genommen wurde, können die Arme wieder in die Gelöstheit geöffnet werden. Auch die Aufmerksamkeit geht wieder nach außen und führt zur Wahrnehmung und Empfindung der Weite des Raumes. Aber jetzt hat sich eine erste tragende Kraft etwa in der Mitte des Rumpfes beim Sonnengeflecht angelegt, aus der der führende Impuls kommt.
Die Bewegung wird in einem weiten Ansatz nach vorn in die geschlossene Form geführt. Man geht in die köperlichen Spannungen und Hindernisse hinein. Hierbei lernt man aber auch, damit umzugehen. Das bedeutet z.B., den Willenseinsatz an der richtigen Stelle zu halten, die Schhultern zu lösen und den Atem frei fließen zu lassen.
Die körperlichen Spannungsverhältnisse selbst zu gestalten ist eine wichtige Aktivität im Yoga. Wir verstehen die Yogaübung nicht als Heilmittel gegen Stress o.ä., vielmehr ergründen wir die Gesetze der Formen und Bewegungen. Nur so können wir selbstständig Yoga üben, wenn wir wissen, worum es in der Übung geht. paścimottān āsana, wie diese Yogaübung ursprünglich heißt, bedeutet „Streckung der Rückseite“. Diese Streckung in der Vorwärtsbeuge ist ja eine Bewegungsrichtung nach außen. Die Wirbelsäule dehnt sich über ihr gewöhnliches Maß hinaus aus. Das ist das Primäre bei dieser Übung, dass wir nicht in die Abgeschlossenheit nach innen gehen, selbst in der geschlossenen Haltung der Endstellung bleibt das Bewusstsein wach. Diese Bewegung nach außen ist in ihrem Einsatz vergleichbar damit, auf eine Sache zuzugehen oder eben ein Ziel anzustreben. Dabei kommt man gewöhnlich an die Grenze desjenigen, was man bisher konnte. Wir bleiben aber nicht bei dem, was wir schon können, sondern wir wollen uns weiter entwickeln. Schafft man es, in der Übung trotz der unangenehmen Dehnungen und Blockaden „dran zu bleiben“ und sich nicht zu sehr von den Spannungen ablenken zu lassen, dann wird das Wahrnehmen und Fühlen freier und tritt stärker in Beziehung zu dem, was da ist, das ganze Erleben taucht bewusster ein in die irdischen Verhältnisse. Wir tauchen dann nicht in unsere eigene Innenwelt ein, sondern gehen in die Auseinandersetzung. Darin drückt sich die Ausdauer auf seelischer Ebene aus, dass wir die Übung nicht sogleich verlassen, wenn sie unangenehm ist, sondern sie in ihrem Wesen ergründen.
Der Philosoph Schopenhauer drückt es sogar als einen Genuss aus, Hindernisse zu überwinden:
„Sich zu mühen und mit dem Widerstände zu kämpfen ist dem Menschen Bedürfnis, wie dem Maulwurf das Graben. Der Stillstand, den die Allgenugsamkeit eines bleibenden Genusses herbeiführte, wäre ihm unerträglich. Hindernisse überwinden ist der Vollgenuss seines Daseins.“²
Der Vollgenuss – die Freude in der Ausdauer und Herausforderung, weil man sich selbst entwickeln kann! Das Bild des grabenden Maulwurfes ist wohl scherzhaft aber sicher auch nicht ganz zufällig gewählt: es deutet auf das Ergründen der Materie hin. Denn bei diesem Graben und Durcharbeiten in der (noch) dunklen Tiefe lernt man die Materie kennen. Und je mehr man sie neu kennen lernt, umso lichter wird sie und umso mehr lässt man das Bisherige zurück. Darin deutet sich schon die nächste Monatstugend an: die Selbstlosigkeit, sich selbst vergessen können!
Ziele aus Selbsterkenntnis
Nun kann besonders bei solchen Zielen, die man sich unabhängig von vorgegebenen Strukturen setzt, welche eben aus eigenen Überlegungen motiviert sind, eine andere Eigenschaft zum tragen kommen, die mit dem Lotus beim Kehlkopf zusammenhängt:
„Das sechste betrifft das menschliche Streben. Der Geheimschüler prüft seine Fähigkeiten, sein Können und verhält sich im Sinne solcher Selbsterkenntnis. Er versucht nichts zu tun, was außerhalb seiner Kräfte liegt; aber auch nichts zu unterlassen, was innerhalb derselben sich befindet. Andererseits stellt er sich Ziele, die mit den Idealen, mit den großen Pflichten eines Menschen zusammenhängen. Er fügt sich nicht bloß gedankenlos als ein Rad ein in das Menschentriebwerk, sondern er sucht seine Aufgaben zu begreifen, über das Alltägliche hinauszublicken. Er strebt danach, seine Obliegenheiten immer besser und vollkommener zu machen.“³
Das charakteristische für die Eigenschaften der „Lotusblume“ beim Kehlkopf, dieses Nervengeflechtes in Verbindung mit der Schilddrüse, ist das Innehalten und abwägen: Man unterbricht dieses Triebwerk der alltäglichen Abläufe und überlegt, wo man steht:
- Wo liegen meine Fähigkeiten?
- Was habe ich bisher gelernt?
- Wie könnte ich sie erweitern?
- Was könnte ein nächster Schritt sein?
- Wo werden sie benötigt?
Diese Selbsteinschätzung der persönlichen Fähigkeiten gemäß der eigenen Kräfte aus sorgfältiger Überlegung regt das Lernen im Leben an, sie ist aber auch für eine realistische Zielsetzung notwendig. Das betrifft einerseits, das eigene Können überhaupt zu sehen, dann die eigenen Kräfte einzuschätzen und schließlich auch sich mit den Fähigkeiten in der richtigen Weise in die Umgebung zu integrieren. Die Zielsetzung beginnt mit solchen Überlegungen also im Bewusstsein und verbindet sich mit der Ausdauer an diesen Zielen mit dem Herzen.
Wie entsteht nun schließlich die Treue?
Ich denke, sie ist die Beziehung, die in der wiederholten Hinwendung, Auseinandersetzung und Bemühung, dem Opfer des Bisherigen und dem wachsenden Willen zu einem Neuen entsteht. Vielleicht kann man in diesem Sinne auch sagen, die Treue ist die Liebe zu einer Auseinandersetzung, die Neues hervorbringen möchte.
Zuletzt zum Verständnis eine kurze Übersicht der Zielsetzung auf unterschiedlichen Ebenen:
- Ziele auf der physischen Ebene – eine Sache beginnen und abschließen
- Ziele auf der seelischen Ebene – z.B. Mut, Aufmerksamkeit, Großzügigkeit, Ausdauer, Standhaftigkeit und Geduld uvm.
- Ziele auf der geistigen Ebene – Studium der Geisteswissenschaft, daraus Ideale für die Menschheit und Kultur in Gedanken bewegen, einen Sinn für Neues und Zukünftiges entwickeln
Auf jeder Ebene wird eine bestimmte Art der Ausdauer geschult. Und je mehr das Ziel sich in Richtung der geistigen Ebene bewegt, so eindeutig sind die Ebenen ja in Wirklichkeit nicht voneinander getrennt, wird auch Geduld notwendig. Man wird verschiedene Erfahrungen machen, wenn man sich Ziele setzt und Ausdauer daran entwickelt. Etwas Wesentliches scheint mir zu sein, dass man überhaupt ins Leben eingreift, sich eine Führung gibt und sich mit den eigenen Fähigkeiten besser verbindet, so dass eine tragende Kraft aus der eigenen Persönlichkeit, eben eine Vertiefung der Fähigkeiten und dadurch eine Beziehung zum allgemeinen Leben entsteht. Das kann auch schon eine Erfahrung bei der oben beschriebenen Übung sein: das Erleben der Vertiefung in der Ausdauer. Die Vertiefung bedeutet wiederum Beziehung und die Beziehung dürfte nichts anderes sein als die Treue.
1) Rudolf Steiner, Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten, (PDF) S. 128
2) Arthur Schopenhauer (1788 – 1860), deutscher Philosoph; Quelle: Schopenhauer, Parerga und Paralipomena, 1851. Erster Band. Aphorismen zur Lebensweisheit. Kapitel 5: Paränesen und Maximen.
3) Rudolf Steiner, Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten, (PDF) S. 121