Yoga war ursprünglich Teil eines spirituellen Weges, zu dem auch die Selbstreflexion, Studium und Meditation gehörten. Die einfache Yogapraxis ist noch kein spiritueller Weg, aber man kann die Yogaübungen so untersuchen, dass sie neue Einsichten für das Leben bringen. Jeder äußeren Haltung liegt eine innere Haltung zugrunde. Welche Gesten verbergen sich hinter einer Yoga-Übung? Wie sieht eine Haltung aus, in der ein Ideal wie die Selbstlosigkeit zum Ausdruck kommt?
Um die Selbstlosigkeit möglichst wertfrei zu betrachten, hilft ein Bild, welches die Beziehung zwischen Ich und Umfeld veranschaulicht:
Der Punkt im Zentrum entspricht der Individualität, die nicht ohne eine Umgebung, einem sozialen Umfeld oder einer Umwelt zu denken ist. Wenn die Umgebung nur wenig oder gar nicht berücksichtigt würde, sprechen wir vom Egoismus. Wenn allerdings das Ich ganz fehlt, und nur der Umkreis bleibt, entsteht die Selbstaufgabe.
Würden wir unserem Ich gar keine Berechtigung geben, gäbe es uns nicht und wir würden nie einen Standpunkt einnehmen, sondern nur im allgemeinen Geschehen mitschwimmen und uns stets passiv unterordnen. Dabei könnte man genau genommen nicht von Selbstlosigkeit sprechen, denn Selbstlosigkeit ist ja eine wirkliche Haltung, die überhaupt erst eingenommen werden muss. Das bedeutet, wir müssen uns dazu persönlich entscheiden, es braucht unseren Willen und unser Bewusstsein und keine Selbstaufgabe!
Was ist es nun, das unsere Persönlichkeit in ein Verhältnis zur Umgebung bringt?
Die zwei Bewegungsrichtungen
Es gibt eine Bewegungsrichtung, die bei sich selbst beginnt und dann nach außen geht, und eine Bewegungsrichtung, die im Außen beginnt und als Anregung nach innen geht.
1. Fähigkeiten ausbilden
Jeder Mensch hat Fähigkeiten, die er ausbilden und erweitern kann. Es ist ein gesunder Egoismus, Fähigkeiten ganz bei sich selbst zu entwickeln. Mit der Entwicklung von Fähigkeiten in einem Fachgebiet gründen wir uns in unserer Persönlichkeit. Irgendwann kommt dann der Zeitpunkt, an dem das Gelernte erprobt werden muss und die Frage entsteht, wie sich die Fähigkeit in das Leben integriert. Der Blick wendet sich dann wieder verstärkt dem Leben zu und die Fähigkeit wird in der Praxis sinnvoll entfaltet und ins leben eingebracht. Die Bewegungsrichtung geht von uns nach außen:
2. Außenwahrnehmung entwickeln
Wir leben in einer Zeit, in der die Entwicklung der Persönlichkeit sehr im Vordergrund steht, was ja – wie oben beschrieben – so sein soll. Der Mensch geht nach seinen persönlichen Fähigkeiten und übt nicht mehr unbedingt den Beruf einer Familientradition aus. Jedoch sollte die Außenwahrnehmung im Laufe des Lebens zunehmen. Sie entspricht dem Bewusstsein des reifer werdenden Menschen, der sich nicht mehr nur um sich selbst und seine Entwicklung dreht, sondern in der Lage ist, dem Leben etwas hinzuzufügen, was ohne ihn nicht entstehen würde. Dafür geht der Blick zuerst nach außen – um zu erkennen, was wirklich dem Leben dient und nicht nur dem persönlichen Interesse – und die Motivation wirkt von außen nach innen:
Die Selbstlosigkeit in zwei Gesten: Fragen und Empfangen
Mit der ersten Bewegungsrichtung setzt sich der Mensch auseinander und arbeitet in den irdischen Verhältnissen. Er stößt an Grenzen, arbeitet an den Widerständen und kommt mit der Materie in Berührung. Alles in Allem muss er seinen Willen aktiv in das Leben richten und dieses fragend und forschend ergründen und bearbeiten.
Stellt man sich diese Aktivität als Geste vor, so entspricht sie der Bewegung des Vorwärtsbeugens, die wir im Yoga bei Übungen wie der Kopf-Knie-Stellung, den Pflug oder Hund, aber auch bei der Waage haben. Der Oberkörper wird nach vorne gebeugt und die Wirbelsäule in eine Streckung gebracht. Gleichzeitig geht man in die Anstrengung und Körperspannung hinein. Dabei kommt man an die eigenen Grenzen der körperlichen Dehnfähigkeit und auch des psychischen Ertragens. Es ist die Gestik der Auseinandersetzung.
Die Streckung der Wirbelsäule interpretieren wir mit der Erweiterung der Möglichkeiten und Fähigkeiten. Im Hineingehen in die Spannungen drückt sich das Fragen, Forschen und praktische Ergründen und Bearbeiten der Dinge im Leben aus. In dieser Art des Sich-Erweiterns und Lernens gründen wir uns in uns selbst, aber wir opfern dabei Zeit, Mühe, Intensität und Fleiß, werden realistischer, verantwortungsbewusster und lassen in dieser Berührung mit der Außenwelt gleichermaßen etwas zurück wie z.B. illusionäre Wünsche und Sehnsüchte. Dies ist die eine Voraussetzung für die Selbstlosigkeit, die über das Fragen im Sinne des Ergründens entsteht.
In der zweiten Bewegungsrichtung, bei der der Impuls von außen kommt, haben wir die Gestik der Offenheit und Empfänglichkeit, die dem Rückwärtsbeugen entspricht. Sie lebt besonders in den Übungen wie Rad, Schiefe Ebene, Halbmond, Kamel, Kobra oder den Fortgeschrittenen Übungen wie Taube und Tänzer bei denen sich der Körper zum Raum hin öffnet, der Oberkörper in der Aufrichtung wieder zurück weicht und der Kopf in den Nacken fällt. In dieser Geste geht es um eine bestimmte Art des Loslassens, die eine Fähigkeit im Leben zum Ausdruck bringt: die eigenen Vorstellungen können zugunsten der Außenwahrnehmung zurück weichen. Das Loslassen der eigenen Vorstellungen wird zur Empfänglichkeit – Rudolf Steiner nennt diese Fähigkeit das „selbstlose Zuhören“*.
Bei den Übungen der Rückwärtsbeugen ist es gut, nicht nur auf den eigenen Körper zu achten, sondern auch auf das Verhältnis zum Raum. So kann die Empfindung der Außenwahrnehmung und Empfänglichkeit gegenüber der Außenwelt entstehen.
Auf einer höheren Stufe ist diese Sensibilität und Empfänglichkeit Voraussetzung für Inspirationen. Eine Inspiration kommt dem Menschen entgegen, er muss dafür empfänglich sein und kann sie nicht über das eigene Denken und Wollen erzwingen.
Das Rückwärtsbeugen erfordert – körperlich gesehen – Beweglichkeit. Sich selbst in seinen Vorstellungen loszulassen erfordert jedoch seelischen Mut und Vertrauen in eine Erkenntnis, die aus Inspirationen kommt. In dieser Empfänglichkeit liegt die zweite Form der Selbstlosigkeit.
Selbstlosigkeit wird zu Katharsis
Nun sollte sich aus den Ausführungen ergeben, was Rudolf Steiners Imagination Selbstlosigkeit wird zu Katharsis bedeutet. Die Selbstlosigkeit im Handeln, bei der illusionäre Gefühle und Sehnsüchte zurückweichen, ist eine Art der Katharsis und die Selbstlosigkeit im Denken und Wahrnehmen, bei der ein selbstbezogenes Gefühl zurückweicht im Sinne „Ich weiß schon alles“, die andere hier beschriebene Art. Man kann anstelle von Katharsis ebenso sagen, es ordnen sich die Gefühle, wenn ich Selbstlosigkeit übe. Diese Ordnung führt dann zu dem Gleichgewicht zwischen Punkt und Umkreis oder Individualität und Außenwelt.
Beim Yogaüben sollte man aber immer bedenken, dass man sich die Selbstlosigkeit nicht über den Körper erüben kann. Sie wird natürlich im Leben geübt und reflektiert, wo sie Ihre Wirkung für andere zeigt. Sonst entsteht doch nur wieder eine Illusion von Selbstlosigkeit.
*Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?, Die Stufen der Einweihung – Die Vorbereitung (S. 30)