Im älteren Yoga ist die Kontrolle des Atems, das so genannte Pranayama, Teil des Übens. Die Führung des Atemstroms in einem bestimmten Rhythmus kann die Konzentration fördern und wird oftmals zur Energetisierung benutzt, um besser in eine Yogaposition zu kommen. Allerdings findet diese Wirkung der Atemführung auf körperlicher Ebene statt, sie bezieht nicht das Bewusstsein ein, außer vielleicht als Methode zur Disziplinierung des Willens. Achten wir hingegen auf unsere Gedanken, so sind wir im Bewusstsein aktiv und der Wille wird vornehmlich auf innere Weise geschult. Das bedeutet, dass die Gedankenkontrolle die Atemkontrolle ablöst.
Gemeint ist keine andauernde äußere zwanghafte Selbstkontrolle, sondern die Übung der Gedankenkontrolle bezieht sich auf einen kurzen Zeitraum, in der man sich aus dem Alltagsgeschehen herausnimmt und seine Aufmerksamkeit auf eine selbst gewählte Sache richtet, so dass die Gedanken nicht beliebig, chaotisch oder durch äußere Vorgaben ablaufen. Es ist also zunächst die Aufgabe, den Gegenstand der Betrachtung selbst zu wählen und weiterhin die Gedanken in der Sache zu bewegen und zu halten, insbesondere, wenn es ein sehr banaler Gegenstand ist, der keine Faszination ausübt.
Die mentale Übung der Gedankenkontrolle
Man lege zum Beispiel eine Nähnadel vor sich hin und nehme sich vor, sie 5 Minuten lang zu beobachten. Dabei wandert der Blick zunächst ganz an den gegenständlichen Merkmalen entlang: Material, Größe, Stärke, Form und Farbe. Zu jedem Sinneseindruck kann man einen beschreibenden Gedanken hinzufügen: die Nadel ist rund, glatt, hat eine bestimmte Länge, sodass man sie mit Daumen und Zeigefinger greifen kann; das Metall ist hart, aber auch ein wenig elastisch; an dem einen Ende ist eine kleine Öse, an dem anderen eine scharfe Spitze …
Es können Vorstellungen hinzukommen, die sich unmittelbar am Gebrauch der Nadel orientieren: die Öse ist gerade so groß, dass eine bestimmte Fadenstärke hindurch passt; die Stärke und Länge der Nadel ist für ein feines oder gröberes Gewebe gedacht …
Man vermeide Assoziationen wie „die Nadel im Heuhafen“ und lege Stimmungen beiseite, wie gern oder ungern man schon immer Handarbeiten gemacht hat, sondern bleibe im Zusammenhang des Gegenstandes selbst. Kommt eine subjektive Erinnerung, wie man sich beispielsweise einmal mit einer Nadel in den Finder gestochen hat, kann man den Gedanken wieder in den objektiven Zusammenhang überführen und sich denken, „die Nadel ist so hart, dass die Spitze anderen Materialen standhalten und weiches Gewebe leicht durchdringen kann“.
Wenn man ausreichend äußere Eindrücke am Gegenstand gesammelt hat, können unmittelbare Erinnerungsbilder hinzukommen: die Art, wie man einfädelt und anschießend die Nadel durch den Stoff stechen und den Faden hindurchziehen kann. Dabei schließen sich evtl. verschiedene Erkenntnisse und Interessensfragen an: „Ach ja, mit der Nadel lassen sich zwei Stoffteile verbinden, erst dadurch sind Kleidungsstücke möglich geworden. Wann mag das erste Kleidungsstück entstanden sein, das genäht wurde?“
Ist die zuvor gewählte Zeit abgelaufen, wird die Übung auch wieder bewusst beendet. Rudolf Steiner, der diese Übung als Grundlage insbesondere für Meditierende empfiehlt, aber auch den allgemeinen Nutzen für jeden Menschen betont, ergänzte dazu noch: „Am Ende einer solchen Übung versuche man, das innere Gefühl von Festigkeit und Sicherheit, das man bei subtiler Aufmerksamkeit auf die eigene Seele bald bemerken wird, sich voll zum Bewußtsein zu bringen, und dann beschließe man die Übungen dadurch, daß man an sein Haupt und an die Mitte des Rückens (Hirn und Rückenmark) denkt, so wie wenn man jenes Gefühl in diesen Körperteil hineingießen wollte.“ ¹
Dazu möchte ich allerdings noch ergänzend anmerken, dass man vermeiden sollte, sich dieses Gefühl einzusuggerien und sich dabei irgendein „spirituelles“ Erlebnis zu erhoffen. Das innere Gefühl von Festigkeit und Sicherheit ist ein Wegweiser. Die Festigkeit und Sicherheit ist ein reales Gefühl wie unser inneres Rückgrad und unserer gedankliche Orientierung.
„Gedankenkontrolle wird zu Wahrheitsempfinden“
Wählt man täglich einen anderen Gegenstand für diese Übung, wird man bald bemerken, wie man den Dingen sehr praktisch „auf den Grund kommt“. An den Formen läßt sich sehr viel zu Gebrauch und Funktion ablesen und die Logik in den Dingen erkennen. Man kann sich über die eigene Sinneswahrnehmung Gedanken bilden und sich die Idee hinter den sichtbaren Formen erschließen. Oftmals tun sich plötzlich „Welten“ auf, die mit einem Gegenstand verbunden sind, denke man nur daran, wie durch die ursprüngliche Vorstellung, zwei Stoffe mit Nadel und Faden zu verbinden, eine ganze Bekleidungskultur entstanden ist. Dadurch stärken wir die Anlage des Wahrheitsempfindens, wie es Rudolf Steiner formuliert: „Gedankenkontrolle wird zu Wahrheitsempfinden.“ ²
Dieses Wahrheits-Empfinden, welches das Wesentliche vom Unwesentlichen oder das Objektive vom Subjektiven unterscheidet, ist eben das genaue Gegenteil des „Irrlichterlierens“, welches beliebig von einer Sache zur nächsten springt. Wir sind in der Übung aufgefordert, die Aktivität der Aufmerksamkeit selbst zu erzeugen und zu bemerken, was aus der Sache erwächst und was sich subjektiv hineinmischt. Wir lernen, zusammenhängend zu betrachten und dabei die Eindrücke gleichermaßen denkend und fühlend nachzuvollziehen, etwas aus der Sache herauszulesen. Das ist etwas anderes als etwas hineinzuinterpretieren!
Im wahrnehmenden zusammenhängenden Anschauen und Nachvollziehen lernt man, seine geistige Kraft zusammenzuhalten und sich sicher in einer Sache zu bewegen.
Wie wertvoll kann dieses Wahrheitsempfinden auch für andere Urteilsbildungen im Leben sein! Es ist wertvoll, zu wissen, wann man zu einem wesentlichen Zusammenhang kommt, den man aussprechen kann, und zu unterscheiden, was nur vage Eindrücke sind, die noch nicht diskussionsreif sind. Das bedeutet, man spricht auch nicht alles Beliebige aus, man lernt, alles, was nicht wirklich zum Wesentlichen eines Gedankens beiträgt, zurückzuhalten und seine geistigen Kräfte zusammenzuhalten. Man lernt dabei aufbauende und zerstreuende Kräfte kennen. Es gibt Situationen, in denen man darauf angewiesen ist, alle geistige Kraft zusammenzuhalten, sich zu zentrieren und nicht von allerlei Einflüssen ablenken oder von einer Sache abbringen zu lassen.
Der Bezug zur Yogaübung
Im Yoga gibt es einige Übungen, in denen man diese Art der Zentrierung nachempfinden kann. Schauen wir uns dazu die Yogaübung „Bogen“ an:
Der Bogen benötigt einen Halt in der Mitte. Aus diesem Zentrum heraus wird die Bewegung gleichmäßig in beide Richtungen gespannt. Dieses Zentrum liegt nicht exakt in der Körpermitte, sondern in der Mitte der Wirbelsäule auf Höhe des Sonnengeflechts. Die Bewegung verläuft also zentrifugal vom mittleren Rücken in beide Richtungen nach außen. Es ist gut, diese Bewegung 2-3 Mal mit kürzeren Haltezeiten zu erproben, um die richtige Spannungsverteilung³ zu finden und Schultern und Arme aus der Anspannung zu lösen. Dann sollte die Bewegung aber relativ weit gespannt etwas länger gehalten und die Aufmerksamkeit auf das Zentrum der Wirbelsäule gelenkt werden. Es hilft dabei die Vorstellung, dass aus der Zentrierung der Mitte ein durchlaufendes und aufbauendes Wachsen entsteht:
Diese besondere Aufmerksamkeit auf die Mitte mit der Vorstellung der zentrifugalen Bewegung geschieht mit Bewusstsein. Es ist nämlich garnicht so leicht, sich nicht in der körperlichen Spannung zu verlieren, sich nicht von der Anstrengung und Unlust ablenken zu lassen und noch die innere Kraft aufzubringen, die Aufmerksamkeit dorthin zu lenken, wo ich sie haben möchte. Also auch hier muss die Aufmerksamkeit aktiv geführt und gehalten werden! Mit der rechten Art der Verinnerlichung dieser Geste können wir die Bewegung harmonischer gestalten.
Der Bezug zur mentalen Übung mit der Stecknadel liegt nicht nur in der inneren Tätigkeit, sich zu zentrieren, sondern auch im Erzeugen einer Weite. Körperlich entsteht sie in der Erweiterung der durchlaufenden Bewegung beim Durchspannen der Wirbelsäule. Mit der Beteiligung des Bewusstseins entsteht die Weite ähnlich der Erfahrung, dass sich in der Betrachtung eines Gegenstandes wie oben beschrieben „Welten auftun“. Es ist das Erleben, sich aus der Konzentration der Aufmerksamkeit mit Hilfe des inneliegenden Bildes zu einer Bewegung erweitern zu können. Das ist etwas anderes, als sich mit Hilfe der Atemkontrolle zu energetisieren, weil wir nun aus der Vorstellung und Wahrnehmung arbeiten.
Ein weiterer Bezug ließe sich zu der Yogaübung Kopfstand herstellen: Das Aufsetzen des Kopfes auf einen Punkt am Boden auf dem sich die Bewegung in die Vertikale aufbaut, ist vergleichbar damit, die Aufmerksamkeit auf eine Sache zu lenken und aus dieser Gedanken zu entwickeln. Das Erleben von Sicherheit und Festigkeit ist auch hier ein reales Gefühl, das durch die Art der Haltung in Beziehung zu Kopf und Wirbelsäule innerlich entsteht. Da aber der Schwerpunkt beim Kopfstand im Wesentlichen auf der Umkehrhaltung liegt, möchte ich auf die nächste Monatstugend verweisen, wofür der Kopfstand repräsentativ ist: der Mut.
1) Zitat mit Übungsbeschreibung und Literaturangabe einzusehen auf athrowiki.at
2) Übersicht der Monatstugenden auf anthrowiki.at mit Literaturhinweis
3) Die gezielte Anspannung im Verhältnis zur Entspannung nennen wir beim Yogaüben Spannungsverteilung. Da es in der Anstrengung aber geradezu reflexartig geschieht, dass man alles anspannt, muss man sich schlicht und einfach selbst daran erinnern, auf Schultern und Nacken zu achten und sie bewusst aus der Spannung zu lösen. Erst wenn man lernt, das Zuviel an Spannung herauszulösen, kann sich die Bewegung richtig entfalten und gleichmäßig durchlaufen. Das Entspannen der Schultern ist wie der Verzicht auf Übersteigerung und die Konzentration auf das Wesentliche, an dem man festhält. So kann man in der hohen Spannung des Bogens dennoch beschaulich bleiben.
„Welcher Lebendige
Sinnbegabte
Liebt nícht vor allen
Wundererscheinungen…“
an diese Hymnen an die Nacht musste ich denken, als ich die Monatstugenden und ihre yogagemäßen Ergänzungen fand. Welch eine wunderbare Welt öffnet sich da, auch sprachlich.
Danke an die Autorin.
Ganz lieben Dank für diesen Hinweis auf Novalis. Gern möchte ich den gesamten ersten Absatz aus den „Hymnen an die Nacht“ hier ergänzen:
Welcher Lebendige, Sinnbegabte, liebt nicht vor allen Wundererscheinungen des verbreiteten Raums um ihn, das allerfreuliche Licht – mit seinen Farben, seinen Stralen und Wogen; seiner milden Allgegenwart, als weckender Tag. Wie des Lebens innerste Seele athmet es der rastlosen Gestirne Riesenwelt, und schwimmt tanzend in seiner blauen Flut – athmet es der funkelnde, ewigruhende Stein, die sinnige, saugende Pflanze, und das wilde, brennende, vielgestaltete Thier – vor allen aber der herrliche Fremdling mit den sinnvollen Augen, dem schwebenden Gange, und den zartgeschlossenen, tonreichen Lippen. Wie ein König der irdischen Natur ruft es jede Kraft zu zahllosen Verwandlungen, knüpft und löst unendliche Bündnisse, hängt sein himmlisches Bild jedem irdischen Wesen um. – Seine Gegenwart allein offenbart die Wunderherrlichkeit der Reiche der Welt.
Der „verbreitete Raum“ um sich herum und das „allerfreuliche Licht“ entspricht wirklich der Empfindung bei der Übung des Bogens, die mit Weite und sprießender Ausdehnung oder Ausstrahlung charakterisiert werden kann.